In diesem Jahr – 2023 – feiert die EU den 30. Jahrestag der Einführung des Binnenmarkts. Damals wurde der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Menschen und Kapital Wirklichkeit. Dies war ein weiterer Meilenstein in einer lange Zeit sehr „männlichen“ Geschichte, die untrennbar mit den „Gründervätern“ wie Altiero Spinelli, Alcide de Gasperi und Jean Monnet verbunden war. Zwar hatten auch Frauen Anteil an der europäischen Einigung, doch ihr Beitrag wird nicht im gleichen Maße gewürdigt.

Von Louise Weiss haben Sie vielleicht schon gehört – aber kennen Sie Éliane Vogel Polsky? Sie war eine Rechtsanwältin aus Belgien, die dafür sorgte, dass Artikel 119 des EG-Vertrags, wonach Frauen und Männer gleichen Lohn erhalten müssen, unmittelbare Geltung erhielt. Außerdem setzte sie durch, dass der Europäische Gerichtshof den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung als Grundrecht der EU anerkannte. Eine weitere prominente Gründermutter ist Sofia Corradi. Sie dachte sich 1969 das Erasmus-Programm aus. Jahrelang arbeitete sie geduldig weiter daran. 1987 schließlich erlebte sie, wie ihre Idee in die Tat umgesetzt wurde.
Die italienische Wissenschaftlerin Maria Pia Di Nonno beschäftigte sich in ihrer Doktorarbeit „Die Gründermütter Europas“ mit der Rolle der Frauen in der Geschichte der EU. Auf der Grundlage dieser Arbeit entstand später eine Ausstellung. Der Newshound des Europäischen Parlaments sprach mit ihr über ihre Arbeit.
Wie kamen Sie auf die Idee, eine Arbeit über die „Gründermütter“ zu schreiben?
Ich wählte dieses Thema 2015 für meine Doktorarbeit und Forschungen an der Universität Sapienza in Rom, hatte aber schon 2014 begonnen, darüber nachzudenken. Man sagte mir, dass der Projekttitel ein wenig nach einem politischen Slogan klinge und dass ich nicht viel finden würde ... Aber ich ließ nicht locker und ging nach Florenz, um im Historischen Archiv der Europäischen Union zu recherchieren. Und dort verzeichnete ich erste Ergebnisse – ich stieß auf Fausta Deshormes La Valle: Von den 1960er- bis in die 1990er-Jahre war sie eine herausragende Kommissionsbeamtin. Sie brachte die ersten Initiativen auf den Weg, die für junge Leute gedacht waren. Später konzipierte sie das Netz „Frauen Europas“. Ich bewundere sie sehr.
Was bedeutete es, in der eher männlichen Welt der Politik zu Beginn des europäischen Aufbauwerks eine „Gründermutter“ zu sein?
Die Wörter „Mütter“ und „Väter“ sind wirklich mit Vorsicht zu genießen: Man könnte fast denken, Europa sei vom Himmel gefallen! Der Aufbau Europas geschah jedoch vor Ort, und obwohl die Frauen dabei vielleicht nicht an vorderster Front standen, spielten sie von Anfang an unbestreitbar eine Rolle – auch schon davor, und zwar von der Basis der Zivilgesellschaft aus. Erst in den 1970er-Jahren gab es mehr Frauen in Ämtern mit politischer Verantwortung – und sogar erst am Ende des Jahrzehnts, 1978, leitete erstmals eine Frau eine europäische Institution, nämlich den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss: Fabrizia Baduel Glorioso. [Anmerkung der Redaktion: Später wurde sie Mitglied des Europäischen Parlaments.]
Die Mitglieder des Politischen Ausschusses Maria Fabrizia Baduel Glorioso (links) und Sergio Camillo Segre (rechts) im Egmont-Palast in Brüssel © Europäische Union, 1980
Das ist auch eine Frage des Medieninteresses: Eine Gruppe von Frauen trug 1948 zum Haager Kongress bei, bei dem das Fundament des europäischen Föderalismus gelegt wurde, aber dazu findet man in den Zeitungen von damals kaum etwas ...
Schließlich noch ein perfektes Beispiel für eine Frau der Tat: Ursula Hirschmann. Sie schrieb zwar nicht das Manifest von Ventotene, den Vorläufertext des europäischen Föderalismus, den Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni 1941 verfassten, als man sie auf die Insel Ventotene vor der Küste Roms verbannt hatte, doch als politisch und sozial engagierte Frau (die nicht nur Ehefrau und Mutter war) konnte sie zur Verbreitung des Textes in ganz Europa beitragen. Und 1975 gründete sie in Brüssel Femmes pour l‘Europe (Frauen für Europa).
In der Einleitung Ihres Buches heißt es: „Wenn man die Geschichten dieser Frauen erzählt, ist es immer noch möglich, auf neue Art und Weise europäisch zu sein.“ Haben Sie dieses Gefühl noch immer, auch sechs Jahre nachdem Sie diese Zeilen schrieben?
Das ist nach wie vor so. Außerdem besteht die Idee des Projekts „Gründermütter“ nicht darin, die perfekte, mythische Frau zu idealisieren, sondern ein neues Gleichgewicht herzustellen: zu zeigen, dass die Europäische Union etwas ist und immer war, was von der Basis ausgeht. Neben den Frauen, die ich in meinem Buch und in den Ausstellungen zu dem Thema erwähne, gibt es diese Menschen „im Schatten“ – Männer, Frauen, junge Leute, die alle auf ihrer eigenen Ebene etwas für Europa bewirken können.

Wenn Sie Ihre Liste aktualisieren würden, welche Frau käme hinzu?
Ich erkenne große Ähnlichkeiten zwischen 1979, als Simone Veil nach der ersten Direktwahl Parlamentspräsidentin wurde, und 2019, als Frauen wie Ursula von der Leyen und Christine Lagarde die Leitung sehr wichtiger internationaler Institutionen übernahmen. Für mich ist das sozusagen das Weiterreichen des Staffelstabs von einer Generation an die nächste, und es ist ein Zeichen, dass sich die Dinge ändern.
Was sagen Sie rückblickend zu Ihrer Arbeit über die „Gründermütter Europas“?
Ich würde sagen, dass das Projekt ziemlich weite Kreise gezogen hat. 2014 fing ich damit an. Daraus wurde eine Doktorarbeit, aus der wiederum ein Buch und eine zweisprachige, von der Europäischen Kommission ausgezeichnete Wanderausstellung (auf Italienisch und Englisch) entstanden. Außerdem gab das Projekt den Anstoß für rund 100 Konferenzen. Menschen nahmen sich dieses Themas an, die sich leidenschaftlich dafür interessierten, die es im Laufe der Zeit sozusagen zum Leben erweckten und mit denen ich faszinierende Diskussionen führte.
Ich habe ein Gefühl – das zum Schluss: Ich glaube, es gibt immer noch Menschen da draußen, die – im Schatten – zum europäischen Aufbauwerk beigetragen haben, Menschen, von denen wir nichts ahnen und die darauf warten, entdeckt zu werden. Aber das kann jemand anders erforschen!
Zuerst erschienen in Newshound, Ausgabe 738 vom 8. März 2023.