Die Menschen hinter den Namen der Gebäude des Europäischen Parlaments: Wilfried Martens


European Parliament Martens Building, BrusselsGebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel – Martens-Gebäude © Europäische Union 2018 – Europäisches Parlament

Ehemaliger belgischer Ministerpräsident und „Mann der neun Regierungen“

Der Belgier Wilfried Martens wurde 1936 in einem Dorf in Ostflandern als ältester Sohn eines Kleinbauers geboren. Als er sieben Jahre alt war, starb der Vater der Großfamilie. Martens war ein herausragender Schüler: Ein Begabtenstipendium ermöglichte ihm, eine weiterführende Schule und schließlich eine Hochschule zu besuchen.

Seine politische Laufbahn war unkonventionell: Kein anderer hatte so viele Regierungen geführt oder war für so lange Zeit Ministerpräsident. Er war Mitglied der damaligen flämischen christdemokratischen Partei und stellte in einer Zeit großer Instabilität von 1979 (Martens I) bis 1992 (Martens IX) praktisch alle in Belgien möglichen politischen Koalitionen auf die Beine.

European Parliament Martens Building, BrusselsGebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel – Martens-Gebäude © Europäische Union 2018 – Europäisches Parlament

Politische Laufbahn

Wilfried Martens war promovierter Rechtswissenschaftler mit Notariatslizenz und Baccalaureat der thomistischen Philosophie. Schon früh fiel er für seinen scharfen Verstand und seine Beharrlichkeit im sprachpolitischen Bereich auf. Während seines Studiums an der Katholischen Universität Löwen (KUL) engagierte er sich für die flämische Bewegung. Diese forderte sprachliche Anerkennung und mehr Autonomie für Flandern im belgischen Staat. Nach seinem Studium arbeitete er in den Kabinetten der Ministerpräsidenten Pierre Harmel (1965) und Paul Vanden Boeynants (1966). Diese Erfahrungen fachten seine Begeisterung für Politik zweifellos weiter an.

1960 wurde Martens in Gent als Rechtsanwalt zugelassen. Später machte man ihn zum Präsidenten der Jugendorganisation der christlich-sozialen Partei. Im Jahr 1972 wurde er mit gerade einmal 35 Jahren zum Vorsitzenden der Christelijke Volkspartij (CVP) – ein Amt, das er bis 1979 innehatte.

1974 wählte man Martens in die belgische Abgeordnetenkammer. Dort spielte er eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen über den Egmont-Pakt und das Stuyvenberg-Abkommen, die als Grundlage für eine Staatsreform dienen sollten. Die Abkommen wurden 1978 geschlossen, wegen des zunehmenden Widerstands aus der flämischen Bevölkerung aber nicht weiterverfolgt. Kurz nachdem der damalige Ministerpräsident Léo Tindemans aus seinem Amt entlassen wurde, brach die Zeit der Martens-Regierungen an.

Wilfried Martens in a Plenary Session in StrasbourgWilfried Martens während der Plenartagung in Straßburg – Würdigung des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin © Europäische Gemeinschaften 1995

Ein unbeständiges Belgien

Die Tatsache, dass Martens so viele Regierungen hintereinander führte, zeugt von der politischen Instabilität der damaligen Zeit. Die Stimmung zwischen den Sprachgemeinschaften war geladen und das Scheitern des Egmont-Pakts warf das Land um einige Jahre zurück. Belgien war damals gleich mit mehreren drängenden Problemen konfrontiert: Die Gemeinde Voeren stand zwischen den sprachlichen Fronten, die Kluft zwischen der flämisch- und französischsprachigen Bevölkerung wurde immer tiefer und innerhalb der Sprachgemeinschaften zeichnete sich eine Spaltung in Regionalisten und Kommunitäre ab. Die heutige Region Brüssel gab es so noch nicht. Erst die großen Staatsreformen von 1988 und 1989 brachten das Land in diesen Angelegenheiten weiter – zumindest teilweise.

Martens’ Beitrag für Europa

Mit der Wahl von Jean-Luc Dehaene zum Ministerpräsidenten im Jahr 1991 wandte sich Martens vollständig Europa und der Europäischen Volkspartei (EVP) zu. Zuvor hatte er zu deren Gründung im Jahr 1976 beigetragen und 1990 den Parteivorsitz übernommen. Von 1994 bis 2004 war er Abgeordneter im Europäischen Parlament. Zwischen 1993 und 1996 hatte er den Vorsitz der Europäischen Union Christlicher Demokraten inne und von 1994 bis 1999 war er Vorsitzender der EVP-Fraktion.

Martens erwies sich als starker Verfechter eines föderalen Europas. Als EVP-Vorsitzender war er besonders daran interessiert, sie möglichst vielen Christdemokraten zugänglich zu machen. Eine breitere politische Aufstellung sollte neuen konservativen Parteien den Weg ebnen und sie zur größten politischen Partei auf europäischer Ebene machen. Martens setzte sich aber auch mit all seiner Kraft dafür ein, die Rolle der europäischen politischen Parteien beim Aufbau eines geeinten Europas zu stärken. Ein politisches Bewusstsein für Europa und das Einbringen der Vorstellungen der Unionsbürgerinnen und -bürger sollten das möglich machen.

Wilfried Martens starb im Jahr 2013. Ein Jahr später entschied das Europäische Parlament, das zu der Zeit im Bau befindliche Gebäude in der Rue Belliard nach ihm zu benennen. Das Martens-Gebäude wurde im Juni 2018 eröffnet.

European Parliament Martens Building, BrusselsGebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel – Außenansicht – Martens-Gebäude © Europäische Union 2021 – Europäisches Parlament